NVA im Kalten Krieg: Das letzte Kommando

Di, 16. Apr. 2019

Admiral Theodor Hoffmann, der letzte Oberkommandierende der Nationalen Volksarmee (NVA) ist am 1. November 2018 gestorben und auf hoher See bestattet worden. Hoffmann hat 2001 an der Militärischen Führungsschule ETHZ einen Vortrag zur NVA im Kalten Krieg gehalten. Dieses Zeitdokument ermöglicht es, diese für Europa so belastende zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Brille eines potenziellen Gegners zu sehen und mit der eigenen Wahrnehmung zu vergleichen.

Teil 1 der Reihe von Oberst Hans Rudolf Fuhrer über die DDR-Armee im Kalten Krieg

Es ist zugleich eine persönliche Erinnerung an einen feinen Menschen, der in einem aus westdeutscher Sicht «Unrechtsstaat» auf höchster Verantwortungsebene handelte. Der Text seines Referats wird in drei Teile aufgeteilt und durch einleitende und wertende Gedanken umrahmt.

Soldatenstreik in Beelitz
Admiral Theodor Hoffmann war nach dem Mauerfall am 18. November 1989 zum Minister für Nationale Verteidigung ernannt worden. Er übernahm das Amt in der Modrow-Regierung vom zurückgetretenen Erich Kessler.

Am Neujahrstag 1990 geschah etwas in der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) Unvorstellbares: Im Truppenstandort Beelitz wurde gestreikt. Fernsehbilder zeigten Soldaten an offenen Feuern sitzen, in Decken gehüllt, mit Kerzen in den Händen. Von einem Panzerdenkmal herab hing ein Tuch mit der Aufschrift: «Wir sind auch Menschen.»

Eine Delegation der streikenden Soldaten sprach im NVA-Kommando in Strausberg vor, stellte Forderungen und drohte: Im Weigerungsfall würden Panzer nach Berlin rollen und es würde eine Lynchjustiz walten.

Hoffmann fuhr nach Beelitz und hörte sich die Klagen der Soldaten an. Fragen beantwortete er sofort, und Forderungen versprach er zu prüfen. Nach diesem Gespräch forderte er die streikenden Soldaten auf, sich nun wieder wie Soldaten zu benehmen. Diese erhoben sich, applaudierten ihrem Minister und gingen zurück in den Dienst.

Reformen und Umbruch
Es wurde der Runde Tisch geschaffen, an dem Vertreter der Bürgerbewegungen, der Kirche und der Regierung die Umwandlung in einen sozialdemokratischen Staat diskutierten. Der in West und Ost beachtete Aufruf «Für unser Land» machte deutlich, dass nach der gewaltfreien Revolution nicht die Auflösung der DDR geplant war. Hoffmann leitete eine tiefgreifende Armeereform ein. Die NVA sollte jetzt ihrem Namen entsprechen, eine Volksarmee und keine Parteiarmee mehr sein.

Die ersten freien Wahlen ergaben einen fundamentalen Umbruch. Es kam vieles anders als von der früheren Parteielite angedacht. Als Haupt der Staatsregierung wurde Lothar de Maizière (CDU) und als Verteidigungsminister der von der Bürgerbewegung Demokratischer Aufbruch portierte Pfarrer Rainer Eppelmann gewählt.

Anstatt den gewünschten Ruhestand antreten zu dürfen, wurde Hoffmann auf ausdrücklichen Wunsch Eppelmanns und des Vertreters des Warschauer Vertrags in Berlin, des Armeegenerals Schuraljow, zum Chef aller Teilstreitkräfte der neuen NVA gewählt.

Der Entscheid Hoffmanns zur Annahme der ungewöhnlichen Berufung war ein Zeichen des grossen Verantwortungsgefühls seinen Soldaten gegenüber. Ihn erwartete eine voraussichtlich sehr undankbare Aufgabe. Das war Theodor Hoffmann in seiner menschlichen Grösse, von der bereits seine Matrosen beeindruckt waren.

Was wäre geschehen, wenn…
Er hat die Auflösung der NVA in seinem Buch «Das letzte Kommando» eindrücklich beschrieben. Er blieb wie ein echter Kapitän bis zuletzt auf der Brücke und verliess das sinkende Schiff als Letzter. Es kam ja alles ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte.

Es braucht keine übermässige Vorstellungskraft sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn sich im Spätsommer 1989 die Generäle und die Offiziere der Nationalen Volksarmee nicht geweigert hätten, die Armee zur Abschreckung der Demonstranten einzusetzen, wie es Staats- und Parteichef Erich Honecker gefordert hatte.

Vizeadmiral Hoffmann befolgte den Befehl nicht, höchste Alarmbereitschaft in der Marine zu erstellen. Der gefährliche Funke wurde nicht ins prall gefüllte Pulverfass geschleudert.
• Was wäre geschehen, wenn am 9. November auch nur ein Kommandant ausgerastet wäre und in der Stadthalle vorsorglich den Gebrauch der Waffen befohlen hätte?
• Was wäre geschehen, wenn im Januar 1990,wie angedroht, die Tanks der 9. Panzerdivision gerollt wären und die noch in voller Kampfstärke anwesenden sowjetischen Truppen in die Auseinandersetzung eingegriffen hätten?

Ein besonnener Mann
Hoffmann war einer der besonnenen Menschen in den Führungspositionen der DDR mit hohem Pflichtbewusstsein, der in seinem Befehlskreis das Unglück verhindert hat. Bei verschiedenen Gelegenheiten wurde der Bevölkerung für ihre Bereitschaft zur Gewaltfreiheit gedankt.

Am 12. November 1989 begab sich Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Begleitung des Berliner Bürgermeisters Walter Momper mit Blumen an die Grenzübergangsstelle Potsdamer Platz und dankte den dort diensttuenden Soldaten für ihr Verhalten. Der Dank an Theodor Hoffmann wurde am Grab nur durch seine Kameraden ausgesprochen. Egon Krenz schlug am 13. Oktober 2009 dem Bundespräsidenten Horst Köhler vor: «Wäre es nicht an der Zeit, den 20. Jahrestag der Grenzöffnung durch die DDR am 9. November 1989 zum Anlass zu nehmen, endlich zu einer sachlichen, wahrheitsgetreuen und wissenschaftlich fundierten Darstellung der Geschichte beider deutscher Staaten zu kommen?»

Das Podium für Hoffmann
Leider deutet vieles darauf hin – der weitgehend unbeachtete Hinschied des letzten Oberkommandierenden der NVA ist ein Indiz – dass diese Botschaft auch nach 30 Jahren unbeantwortet verhallt ist.

Auf diesem Hintergrund wollen wir die wichtigsten Teile des Referates mit geringfügigen Kürzungen möglichst vorurteilsfrei zur Kenntnis nehmen. Dass man einem hohen Funktionär eines «Unrechtstaates» an einer Militärakademie das Recht zum Sprechen gibt, war damals selbst in der Schweiz nicht unproblematisch.

Ich war und bin heute noch der Meinung, dass es der neutralen Schweiz gut ansteht, wenigstens zuzuhören. Man muss ja die fremde Meinung nicht teilen. Bereits schon die Römer respektierten vor Gericht den Satz: «Audiatur et altera pars» (Man muss auch die andere Seite hören).

Das Redemanuskript von 2001
Es folgt der Wortlaut. Für mich als ehemaligen Angehörigen der NVA mit einer Dienstzeit von mehr als 38 Jahren und Dienststellungen vom einfachen Matrosen bis zum Chef der NVA ist die Behandlung dieses Themas eine Herausforderung. Es ist für mich nicht nur die Auseinandersetzung mit einer verfehlten Politik, sondern sie ist auch die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, mit Hoffnungen, die ich an die Existenz der DDR knüpfte, aber auch mit Fehlinterpretationen und eigenen Unterlassungen. Ein General/Admiral muss sich schon fragen: Welchen Anteil habe ich daran?

Was ist der Sinn?
Im Ergebnis der Überlegungen taucht immer die Frage auf, welchen Sinn hatte der Dienst? Sie ist aus der Sicht der ehemaligen Angehörigen der NVA nicht einfach zu beantworten. Die Antwort ist aus meiner Sicht zurzeit wie folgt möglich:
• Es ist immer lobenswert, wenn junge Männer bereit sind ihrem Vaterland mit der Waffe in der Hand zu dienen und es bei Gefahr zu schützen;
• Wenn es so ist, dass das militärstrategische Gleichgewicht zwischen den Blöcken den Frieden gesichert hat, dann haben dazu auch die ehemaligen Angehörigen der NVA beigetragen;
• Wenn es den Kalten Krieg als Form der Systemauseinandersetzung nicht gegeben hätte, dann wäre unser Dienst so nicht notwendig gewesen;
• Dass der Staat, an den viele Menschen einmal Hoffnungen knöpften, vom Volk abgewählt wurde, erfordert eine kritische Reflexion;
• Wenn wir eine Sicherheitspolitik, die so sehr auf den militärischen Faktor setzte, heute als verfehlt betrachten, können alle edlen Motive nichts daran ändern, dass wir einer verfehlten Sicherheitspolitik dienten.

Fünf Schwerpunkte
Zur Behandlung des Themas NVA im Kalten Krieg sind mir die Schwerpunkte nicht vorgegeben worden. Ich möchte in meinem Vortrag auf folgende fünf Fragen eingehen:
• 1. der Kalte Krieg nach dem Verständnis in der NVA
• 2. das Bedrohungsempfinden in der DDR
• 3. die Stellung der NVA in den Vereinten Streitkräften des Warschauer Vertrages
• 4. zu einigen Fragen der Gefechtsbereitschaft der NVA 
• 5. die politisch-ideologische Arbeit in der NVA,
• um dann im Schlusswort die Rolle der NVA in ausgewählten Krisen des Kalten Krieges zu skizzieren.

1. Das Verständnis in der NVA
Die NVA hatte zum Kalten Krieg ein besonderes Verhältnis. Genau wie der Staat, dem sie diente, war die NVA ein Produkt des Kalten Krieges. Sie war vom Kalten Krieg in besonderer Art und Weise betroffen und hat als westlichster Vorposten der Streitkräfte des Warschauer Vertrages auch eine besondere Rolle gespielt.

In den Streitkräften des Warschauer Vertrages gab es ein annähernd gleiches Verständnis vom Kalten Krieg.

Sowjetisches Zitat
Das ergab sich aus der abgestimmten Politik der führenden Parteien und Regierungen. In der sowjetischen Militärenzyklopädie heisst es sinngemäss:

«Kalter Krieg ist die Politik der reaktionären Kreise der imperialistischen Mächte nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber der Sowjetunion, den anderen Ländern des Sozialismus, aller fortschrittlichen und friedliebenden Kräfte.

Die Politik des kalten Krieges ist gerichtet auf die Zuspitzung der internationalen Spannung, auf die Schaffung und Aufrechterhaltung der Gefahr der Entfesselung eines heissen Krieges, darauf, die Entwicklung der Sowjetunion und der anderen Länder der sozialistischen Gemeinschaft zu hemmen, das masslose Wettrüsten und das Wachsen der Militärausgaben zu rechtfertigen und die Verstärkung der Reaktion und Verfolgung der fortschrittlichen Kreise zu begründen.

Die Politik des kalten Krieges wurde verkündet durch Churchill in Fulton am 5. März 1946, wo er offen die Forderung nach der Schaffung eines englisch-amerikanischen Militärbündnisses für den Kampf mit dem Weltkommunismus mit der Sowjetunion an der Spitze erhob.»

Miteinander verflochten
Der Kalte Krieg war somit eine gegen das sozialistische Weltsystem gerichtete Politik des imperialistischen Systems mit den USA an der Spitze. Es war die Politik der totalen Konfrontation, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfasste: Ideologie, Politik, Ökonomie, Kultur, Sport usw. – und die ganz besonders auf den militärischen Faktor setzte.

Der Kalte Krieg hatte zwei miteinander verflochtene Funktionen.
• 1. Er war eine Art Stellvertreterkrieg für einen Dritten Weltkrieg, indem er Ziele hatte, die bis dahin nur in einem bewaffneten Kampf erreicht wurden und die ja in der Endkonsequenz durch den Westen auch erreicht wurden, denn das sozialistische Lager und die Sowjetunion sind zerfallen und Russland ist heute weit davon entfernt, eine Supermacht zu sein.
• 2. Der Kalte Krieg war auch Mittel zur Erhaltung des Friedens, obwohl die Welt einige Male, wie oft kann man wohl nur sagen, wenn alle Archive geöffnet sind, am Rande grosser militärischer Konflikte stand.

Partner disziplinieren
Der Kalte Krieg hatte auch die Funktion der Disziplinierung der eigenen Bündnispartner und der Absicherung bestehender Hegemonialinteressen der Führungsmächte. Deutschland ist mit Sicherheit nicht der Urheber und Auslöser des Kalten Krieges, wurde jedoch von Anfang an in ihn einbezogen und spielte während der gesamten Zeit eine vergleichbar grössere Rolle als die anderen Partner der gegeneinander gerichteten Militärkoalitionen.

Von nicht geringer Bedeutung war, dass sich die Streitkräfte der Siegermächte auf deutschem Territorium in wenigen Kilometer Entfernung entlang der Demarkationslinie/Grenze zwischen beiden deutschen Staaten gegenüber standen.

Die Widersprüche zwischen beiden Weltsystemen polarisierten sich auf deutschem Boden in besonderer Weise und erreichten hier eine besondere Schärfe. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass die erste grosse Krise des Kalten Krieges – nämlich die Blockade Westberlins – auf deutschem Territorium stattfand.

Kalkül der Sowjetunion
Das Kalkül der Sowjetunion, die Westmächte möglichst aus Berlin zu verdrängen, ging nicht auf. Die Berlinkrise wurde im Frühjahr 1949, dem Gründungsjahr beider deutscher Staaten auf deutschem Boden beigelegt.

Als sich Mitte der 1980-er Jahre die Politik der Vernunft durchzusetzen begann, Feindbilder abgebaut wurden und sich in der Sowjetunion die Politik von Glasnost und Perestroika durchsetzte, waren die Tage der DDR auch auf Grund des Unvermögens der Partei und Staatsführung, die inneren Probleme des Landes zu lösen, gezählt. Das Ende des Kalten Krieges, das die Einheit Deutschlands ermöglichte, leitete auch das Ende der NVA ein.

Fortsetzung des Redemanuskripts folgt

 

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